Herzlich Willkommen!
Denn wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen.
(Joh. 6, 37) - Jahreslosung 2022
Gott bewertet nicht
„Ja, es gibt noch Bären hier“ erklärt uns der Leiter des Nationalparkinstituts, der uns mit den Besonderheiten des Beresinski – Nationalparks, eines der ältesten Naturschutzgebiete Europas entlang des Oberlaufes des Flusses Beresina, bekannt macht. Er liegt in Belarus, 100 Kilometer nordwestlich von Kiew und breitet sich über eine Fläche von 85000 Hektar mit Wäldern, Sümpfen und Seen aus. Ich bin unterwegs mit acht Männern. Wir wollen neun Tage im Nationalpark verbringen, in deren Zentrum vier Tage und Nächte stehen, die jeder von uns allein und fastend nur mit Schlafsack, Tarp und Wasser ausgerüstet in den Tiefen des Waldes verbringt.
Wir sind auf Visionssuche. Jeder bringt seine eigenen Themen, seine Geschichte mit. Jeder spürt, dass er sich an einem inneren und damit auch äußeren Wendepunkt befindet, dass es um eine neue Ausrichtung in seinem Leben geht, um eine neue Vision für die nächsten Jahre. Dazu braucht es einen besonderen Raum ohne permanente Ablenkung von außen, ohne Handy, ohne Termine, ohne Zerstreuung durch TV oder Internet. Ein Raum, in dem Aufmerksamkeit fokussiert wird und innere Klarheit entsteht – unterstützt durch die Gruppe und den Spiegel der Natur. Dazu gehört auch das wertungsfreie Anschauen dessen, was gewesen ist, was mich wachsen ließ und unterstützt hat in meiner Entwicklung, wie auch die gelernten Verhaltensweisen und Muster, die mich eingeengt und begrenzt haben und bis heute meine Selbstentfaltung behindern. Es geht um das Wiederfinden der inneren Spur, des göttlichen Samens, der in jedem von uns angelegt ist und der durch die Routinen des Alltags, dem Druck der scheinbaren Notwendigkeiten und äußeren Zwänge oder auch durch betäubende Ablenkungen und Süchte verschüttet ist.
Einer meiner Visisionssuchekollegen ist Markus. Er ist Anfang dreißig und arbeitet als Wissenschaftler an der Universität. Er hat großen Respekt vor den Herausforderungen der Solozeit in der Wildnis. Darum sucht er sich als Schlafplatz einen geschützten Ort unter zwei Bäumen mit niedrigem Bewuchs, der ihm genug Raum bietet für Tarp und Schlafsack. Er hat sich fest vorgenommen, durchzuhalten, will es sich selbst und der Gruppe beweisen, dass er es kann, das er es schafft, die vier Tage und Nächte allein in der Wildnis zu überstehen. So hat er es gelernt von Kindesbeinen an, durchzuhalten, ja über die eigenen Grenzen zu gehen, besser zu sein als die andern. Nur wer höchste Leistungen erbringt, ist etwas wert. Das war der Maßstab, der ihm von seinem Vater eingepflanzt worden war. Und der Vater hatte es genauso vom Großvater gelernt. Der sonntägliche Gottesdienst gehörte zum unumstößlichen Pflichtprogramm, denn für ihn forderte auch Gott Pflichterfüllung und Perfektion. In der Schule galt es, Klassenerster zu sein und auch im Studium war er der Beste seines Jahrgangs. Permanente Höchstleistung und Perfektionismus waren zu seinem Anspruch geworden und das galt für alle Lebensbereiche – auch in Sachen Liebe. An diesem Anspruch scheiterten Beziehungen immer wieder. Markus litt darunter und wollte sich vor allem in diesem letzten Punkt selbst auf die Spur kommen. Nun sitzt er in seinem Versteck. Es wird dunkel und mit der Dunkelheit kommen die Ängste. Bin ich genug gewappnet, wenn ein Unwetter hereinbricht? Was mache ich, wenn Wildschweine kommen oder gar ein Bär auftaucht? Wie soll ich diese Nacht überstehen, ganz zu schweigen von vier Nächten? Jedes Knacken in der Dunkelheit lässt ihn hochfahren. An Schlaf ist nicht zu denken. Bis schließlich – es mag gegen zwei Uhr morgens sein – ein immer näher kommendes, schweres Trampeln und Schnauben sein Herz bis zum Hals schlagen lässt. Er hat das Gefühl, augenblicklich von einer Horde Elche überrannt zu werden. In diesem Moment beschließt Markus, sich nicht länger zu übergehen. Er nimmt zum ersten Mal sich selbst, seine Ängste, seine eigenen Grenzen wahr ohne sie zu ignorieren. Im Morgengrauen packt er Schlafsack und Tarp ein und macht sich auf den Weg zur Basis. In der Nähe des Hauses verbringt er die nächsten Tage und Nächte. Die Wildnis hat ihn gelehrt, seine Ängste, seine Grenzen wahrzunehmen und seinen eigenen Maßstab zu finden. Leben bedeutet nicht, der Beste sein zu müssen und um jeden Preis durchzuhalten. Sein Rückzug ist kein Scheitern sondern - im Gegenteil - eine Befreiung. Der innere Druck, perfekt sein zu müssen, fällt von ihm ab. Ich darf so sein wie ich bin. Ich muss mich niemandem beweisen, um anerkannt, um geliebt zu sein, um gesehen zu werden – nicht dem Vater oder Großvater, nicht der Natur, nicht mir selbst gegenüber und auch nicht vor Gott. Die Natur bewertet nicht. Gott bewertet nicht. Ich muss keine Leistungsnachweise erbringen, keine 50 Gottesdienste im Jahr besucht haben, keine 1000 Likes vorweisen und nicht 10000 Follower haben, um vor Gott bestehen zu können. Ich bin und bleibe Gottes geliebtes Kind - auch mit allen meinen Macken, Ängsten und Schwächen. Bei Gott kann ich mich fallen lassen auch ohne Sicherheitsseil. Gottes Tür steht offen.
"Denn wer zu mir kommt", so sagt Jesus im Johannesevangelium, "den werde ich nicht abweisen." (Joh. 6, 37) - Jahreslosung 2022
Ich wünsche euch viele offene Türen!
Henning Olschowsky